Grenzen setzen – Resilienz stärken

In der heutigen Arbeitswelt ist die Balance zwischen Beruf und Familie eine Herausforderung. Da die eigenen Ressourcen beschränkt sind, gilt es, Verantwortung für sich selbst und gegenüber dem persönlichen und beruflichen Umfeld zu übernehmen. Welche Rolle Resilienz dabei spielt, zeigt das Beispiel von Thomas.

von Christian Bachmann

Fremdgestellte Anforderungen kritisch hinterfragen

Die Rushhour des Lebens

Thomas steht vor folgendem Dilemma: Der Kunde hat das Meeting um eine Stunde verschoben. Eigentlich müsste er nach Hause, um die Kinder von der Kita zu holen. Meeting absagen? Die Schwiegermutter anrufen? Oder es beim Nachbarn versuchen? Wann kommt eigentlich seine Frau nach Hause? Es rattert in seinem Kopf. Er fühlt sich gestresst und emotional erschöpft – wie so oft, wenn es darum geht, sein 70% -Pensum und sein Familienleben unter einen Hut zu bringen.

Das eine verschobene Meeting wäre eigentlich kein Problem: Mit akutem Stress kann der Mensch gut umgehen. Das Problem von Thomas ist der chronische Stress. Thomas ist hoch getaktet, und das schon seit einiger Zeit. Rushhour des Lebens wird die Zeit genannt nach dem Abschluss der Berufsausbildung bis zur Lebensmitte. Alles kommt da zusammen: Thomas wurde zum Teamleiter befördert und konnte eine Familie gründen. Im Verein ist er im Vorstand aktiv. Seine Frau arbeitet auch in einem 70%-Pensum. Dem Paar ist es wichtig, dass beide Elternteile die gleichen Möglichkeiten haben, ihre beruflichen Ambitionen zu verfolgen. Immer öfter nimmt Thomas Arbeit, die er im Büro nicht mehr erledigen konnte, mit nach Hause. Wenn die Arbeit dann mal abgeschlossen ist, kreisen seine Gedanken immer wieder zurück zur Arbeit, und auch die Schlafprobleme nehmen zu.

Stress und seine Folgen

Als Stress wird jedes Ereignis bezeichnet, bei dem eine wahrgenommene Diskrepanz zwischen Anforderungen (fremd- oder selbstgestellt) einerseits und den eigenen Reaktionskapazitäten andererseits besteht. Durch die körperliche Stressreaktion werden Adrenalin und Cortisol ausgeschüttet und dadurch die Muskelspannung und der Blutdruck erhöht und der Herzschlag verschnellert. Nach der Bewältigung einer akuten Stressreaktion geht der Organismus wieder in seinen normalen Modus zurück. Bei chronischen Stressbelastungen ist dies nicht mehr möglich: Damit nehmen psychosomatische Beschwerden wie Rückenschmerzen, Verdauungsprobleme oder Schlafstörungen zu (Kaluza, Stressbewältigung, 2018).

Herausforderung Rollenvielfalt

Der Mensch ist ein begrenztes Wesen. Seine physische und psychische Leistungsfähigkeit ist begrenzt. Auch wer noch so motiviert und engagiert ist für seine persönlichen Aufgaben und Mitmenschen: Jeder Mensch braucht genügend Pausen, Schlaf und Erholung. Dieser Begrenzung steht eine unbegrenzte Anzahl von Menschen gegenüber, die fremdgestellte Anforderungen an Thomas richten können: Aus der Paarbeziehung wurde Familie, aus der Fachkraft wurde ein Teamleiter, und aus dem Vereinsmitglied wurde ein Vorstandsmitglied. Und als leistungsfreudiger Mensch hat Thomas auch hohe Anforderungen an sich selbst, an die Art und Weise, wie er seine Rollen als Vater, Partner, Teamleiter und Vorstand ausfüllt.

Grenzen setzen und managen

Um sein Leben wieder in ein besseres Gleichgewicht zu bringen, kann Thomas einerseits seine Ressourcen stärken oder andererseits seine selbst- oder fremdgestellten Anforderungen reduzieren. Mit dem Entscheid, sein Arbeitspensum auf 70% zu reduzieren, hat Thomas eine neue Grenze gesetzt und damit fremdgestellte Anforderungen reduziert. Er erkennt, dass gesetzte Grenzen immer wieder geschützt werden müssen. In bestimmten Lebenssituationen ist es sogar erforderlich, die Grenzen zu öffnen. Beispielsweise, um das Gespräch mit Arbeitskolleginnen oder Kunden zu suchen, um unterschiedliche Sichtweisen und Empfindungen auszutauschen und zielführende Lösungsansätze für alle Beteiligten zu erörtern. Oft sind Menschen auch Situationen ausgesetzt, welche (kurzfristig) nicht verändert werden können. Es ist immer anspruchsvoll, ein hohes Arbeitspensum mit dem Familienleben abzustimmen oder das operative Tagesgeschäft mit Projektarbeit zu vereinbaren. Das bedeutet, dass es möglich sein muss, sowohl bestehende Grenzbewertungen als auch selbst auferlegte Anforderungen anzupassen. Grenzen können aber auch versetzt werden, indem der Mensch sich neue Kompetenzen aneignet (durch Lernen) und damit seine Reaktionskapazitäten erweitert.¹

Die Kraft der Resilienz

In der Resilienz findet Thomas wichtige Impulse, um seine Grenzen wieder so zu regulieren, damit er auch in der Rushhour des Lebens in einer guten Gesundheit und Leistungsfähigkeit bleiben kann. Das zentrale Element der individuellen Resilienz bilden die Resilienzfaktoren, die vom Menschen trainiert und gestärkt werden können. Diese Ressourcen des Menschen dienen dazu, ihn vor potenziell negativen Effekten zu schützen. Sie ermöglichen es, eine bestmögliche Bewältigungsstrategie für die jeweilige Belastung zu entwickeln.

«Resilienz ist die Fähigkeit zur Aufrechterhaltung oder raschen Zurückgewinnung der psychischen Gesundheit während oder nach stressvollen Lebensereignissen.»

Die sieben Resilienzfaktoren

Thomas, der nicht weiss, ob er das Meeting verschieben oder eine andere Lösung anstreben soll, erinnert sich an seine Eigenverantwortung für sein Denken, Fühlen und Handeln. Resiliente Menschen überlassen die Verantwortung für ihr Leben weder anderen noch dem Zufall. Anschließend schreitet er weiter zur Akzeptanz. Thomas hat gelernt, Geschehnisse und Umstände, die nicht geändert werden können, als solche anzunehmen. Dies entlastet. Der realistische Optimismus bestärkt ihn in seiner Überzeugung, dass er für die aktuelle Situation wie auch für seine aktuelle Lebensphase als Ganzes einen Weg finden wird. Dank der Lösungsorientierung hat er gelernt, für jedes Problem unterschiedliche Varianten zu evaluieren. Er ist mittlerweile auch pragmatisch genug geworden, um die zweit- oder drittbeste Option umzusetzen. Durch seine Netzwerkorientierung hat Thomas gelernt, verlässliche Beziehungen zu Bezugspersonen aufzubauen und diese um Unterstützung zu bitten. Dank der Selbstwirksamkeit hat er die Überzeugung gewonnen, dass er den Anforderungen des Lebens nicht ohnmächtig ausgesetzt ist, sondern auf diese (durch Grenzmanagement) Einfluss nehmen kann. Die Zukunftsorientierung befähigt ihn nicht nur dazu, seinen Blick auf die positiven Möglichkeiten der Zukunft zu richten, sondern verhilft ihm auch dazu, Klarheit darüber zu gewinnen, was in seinem Leben wirklich von Bedeutung ist. Dadurch ist er in der Lage, seine Prioritäten bewusst zu setzen.

Mut zur Grenzsetzung

Thomas entscheidet sich in diesem Fall, die Sitzung abzusagen und seine Grenzen zu schützen, aber auch diejenigen seiner Frau und der Bezugspersonen, die er um Hilfe angefragt hätte. Der Kunde wird nicht erfreut sein. Baldmöglich wird er dem Kunden vorschlagen, sich persönlich zu treffen, um seine Situation zu erläutern und gemeinsam verschiedene Möglichkeiten zu erörtern, wie die zukünftige Zusammenarbeit gestaltet werden kann, ohne dass die familiären Verantwortlichkeiten darunter leiden. Früher hätte er den Mut nicht gehabt, für seine eigenen Grenzen einzustehen. Möglich wurde dies nur, indem er die Grenze der selbstgestellten Anforderungen überdachte und nicht mehr von sich erwartet, allen fremdgestellten Anforderungen bedingungslos zu entsprechen.

Quellen:
1 - Zirkler und Bachmann, Produktiver Umgang mit Spannungsfeldern und Grenzen in der Projektarbeit (2023) (im Druck).
2 - Kalisch, Der resiliente Mensch (2020)
3 - U.a. Heller, Resilienz für die VUCA-Welt (2019)