Stärken stärken: Der „too-much-of-a-good-thing”-Effekt
Von Christian Bachmann:
Die Stärkenforschung bildet ein wesentliches Element der positiven Psychologie. Diese betreibt die wissenschaftliche Erforschung des optimalen menschlichen Funktionierens. Es geht also nicht darum, zu ergründen, was den Menschen krank macht und wie er wieder geheilt werden kann. Vielmehr fokussiert sich die positive Psychologie darauf, was Mensch und Gemeinschaften hilft, ein gutes Leben zu führen.
Als Rückgrat der positiven Psychologie werden die Charakterstärken bezeichnet. Charakterstärken sind positive Eigenschaften und Fähigkeiten des Menschen, die persönlich befriedigend sind, andere Menschen nicht herabsetzen, kulturübergreifend gültig sind und positive Auswirkungen für das Individuum und seine Mitmenschen haben. In einer breit abgestützten wissenschaftlichen Arbeit wurden 24 Charakterstärken definiert, die jeden Menschen auszeichnen. Die Charakterstärken bilden wiederum Zugänge zu den sechs universalen Tugenden.
VIA - Tugenden und Charakerstärken
Jeder Mensch weist 24 Charakterstärken auf – unterschiedlich ausgeprägt
Charakterstärken sind dimensional: Die Frage ist demnach nicht, ob ein Mensch eine Charakterstärke hat oder nicht (das wäre kategorisierend). Vielmehr trägt jeder Mensch alle 24 Charakterstärken in sich. Diese zeigen sich auf einem breiten Kontinuum mehr oder weniger stark ausgeprägt. Neben der Persönlichkeitseigenschaft hat auch der Kontext, also die spezifische Situation, in der sich ein Mensch gerade befindet, einen grossen Einfluss darauf, wie stark eine bestimmte Charakterstärke einer Person gerade zum Ausdruck kommt.
Innerhalb der Charakterstärken haben die Signaturstärken eine wichtige Bedeutung. Als Signaturstärken werden jene positiven, persönlichen Eigenschaften bezeichnet, die ein Individuum besitzt, hochhält und häufig ausübt. Sie stellen das Herzstück und das Wesen einer Person dar. Damit sind Signaturstärken ein wichtiger Teil unserer Identität. Wem es gelingt, vier oder mehr seiner Signaturstärken bei der Arbeit einzusetzen, macht nach einer Reihe von Untersuchungen mehr positive Erfahrungen und empfindet seine Arbeit eher als Berufung. Signaturstärken tragen auch dazu bei, Ziele zu erreichen, positive Emotionen auszulösen und grundlegende psychische Bedürfnisse zu erfüllen. Bei einer Person, die Ihre Signaturstärke im Gegensatz dazu nicht zeigen kann, wird sich bald ein Gefühl der Leere einstellen.
In der Goldenen Mitte liegt die Stärkezone für Signaturstärken
In den Signaturstärken steckt nicht nur unsere Energie und unsere Persönlichkeit. Weil wir unsere Signaturstärken so gut beherrschen, können wir diese auch übertreiben („too-much-of-a-good-thing-effect“): Wenn ein humorvoller Mensch zu weit geht, wird er albern. Bescheidenheit führt bei einer Übertreibung in die Selbstherabsetzung und aus Freundlichkeit wird dann Aufdringlichkeit. Auf der anderen Seite des Kontinuums liegt die Untertreibung. Auch diese ist schädlich.
Stärken stärken bedeutet für uns, dass sich der Mensch seiner Stärken bewusst ist und diese zielgerichtet für seine eigene Entwicklung und zum Nutzen seiner Mitmenschen und Organisationen einsetzen kann. Es bedeutet aber auch ein hohes Mass an Selbstreflexion, dass man sich nicht verliert in der Über- oder Untertreibung. In der „Goldenen Mitte“ liegt die Stärkezone, die es immer wieder zu finden gilt, sodass die Charakterstärke „Freundlichkeit“ in der passenden Situation im richtigen Mass eingesetzt werden kann, damit sich die gewünschten Resultate für sich selbst und die anderen Personen einstellen können (Grafik 2 Stärkezone).
Seminar zu den persönlichen Charakterstärken:
Link zum VIA Institute of Character: VIA Character Strengths Survey & Character Reports | VIA Institute
Literaturquellen zum Text:
Martin Seligman, Wie wir Aufblühen, 2015.
Ryan M. Niemiec, Charakterstärken, 2019.